Dieser Ort ist in keinem Atlas zu finden: Hinter der Ruine des nahe bei Caspar David Friedrichs Geburtsstadt Greifswald gelegenen Zisterzienserklosters Eldena ragt der Kamm des Riesengebirges auf. Frei in Zeit und Raum nimmt eine elegische Abendstimmung im Kopf des betagten Malers Gestalt an, die er im Atelier aus verschiedensten Studien zu einem poesievollen Ganzen formt. (Anm. 1) Links im dunklen Vordergrund führt ein abgestorbener Ast in das Thema des Lebensabends, des Abschieds und des Todes ein. Wohl ahnend, dass er seine Heimat nicht wiedersehen würde, schaut Friedrich auf die ihm seit Jugendzeiten vertraute Ruine, Zeugnis einer großen, in Trümmern liegenden Vergangenheit, die über einem geduckten Bauernhaus emporragt. Über der weitgespannten Landschaft bricht die Dunkelheit herein. Die Arbeit des Tages ist getan, alles kommt zur Ruhe: Ein Pferd wird in die Scheu ne geführt, es wird »ausgespannt« – ein Feierabend in seinem tiefsten Sinne. Das Schlüsselloch des zu Friedrichs Zeiten halb vermauerten, im Bild aber geöffneten Westfensters der Abtei führt an die Schwelle zwischen Licht und Dunkel. Dahinter erheben sich Schneegruben und Reifträger, deren sanfte Linien Friedrich im Juli 1810 gezeichnet hatte und nun seitenverkehrt ins Bild setzt. Ein Erlebnis war das gewesen, als das letzte Licht den oberen Saum der Gebirgszüge streifte. Von oben strahlt der klare Himmel, mit dem alles Irdische an Bedeutung verliert. Sein inneres Leuchten legte Friedrich schon in der Technik an, indem er auf zwei übereinandergelegte helle Grundierungsschichten die Farben in hauchdünnen Lasuren auftrug. »Des Abends gezeichnet, gegen Morgen gewendet«, notierte er sich auf einer Studie, die er für den Himmel und den auf seinen Stock gestützten Mann samt Hund im Gemälde verwendete. (Anm. 2) Die Zeichnung versetzte ihn schlagartig wieder in die friedliche Abendstimmung auf den Feldern zwischen Dresden und Meißen. Dort harrte er im September 1824 bis zum Morgen aus, um den Sonnenaufgang zu zeichnen. So folgt auf den Abend, auf das Ende aller Tage, auf die dunkle Nacht des Todes ein noch schönerer Morgen, das Licht der Ewigkeit. »Wie sind wir wandermüde – ist dies etwa der Tod?«, fragt der Dichter Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht Im Abendrot (1837). Am Abend, wenn die Stimmen des Tages schweigen, sehnt sich der Wanderer nach Hause. Mit der Ruine Eldena in Pommern verweist Caspar David Friedrich auf sein irdisches Vaterland, das er mit der Sehnsucht nach der oberen Heimat verband. Das Bild war eines der letzten, die der Maler vor seinem Schlaganfall noch mit sicherer Hand vollenden konnte. Nie öffentlich ausgestellt, fand es den Weg in sein Greifswalder Elternhaus, zu seinem ältesten Bruder Adolf.
BIRTE FRENSSEN
1 Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 440f., Nr. 415.
2 Studie eines Mannes mit Hund, September 1824, Bleistift, 20,5 × 11,8 cm, Nasjonalmuseet Oslo; Grummt 2011, Bd. 2, S. 813f., Nr. 899