»Die Fichte sticht, die Tanne nicht.« Trotz dieses Merkspruchs kann die Unterscheidung von Fichten und Tannen schon in der Natur schwerfallen – umso mehr, sind die Bäume in Öl gemalt. In Frühschnee (Anm. 1) sind beide Nadelbaumarten zu sehen: Tannen säumen den Weg, der vom Vordergrund in den Wald hineinführt, Fichten bilden eine schier undurchdringliche Front, die erst am oberen Bildrand den Blick auf ein Stück bewölkt-blauen Himmel freigibt. Genau auf der senkrechten Mittelachse, die ausgreifenden Zweige eingefasst von den linken und rechten Vertikalen des Goldenen Schnitts, hebt sich eine sanft beschneite Fichte von den dunklen Stämmen des Waldes ab.
Hartnäckig hielt sich in der Beschreibung dieses Bildes die Nennung beider Nadelbaumarten. Unter der Bezeichnung Fichtenwald im Winter wurde das Gemälde 1828 anlässlich seiner ersten Präsentation im Artistischen Notizenblatt erwähnt, (Anm. 2) 14 Jahre später, 1842, wurde es als Tannenwald im Winter posthum aus der Sammlung Georg Andreas Reimers verkauft. Für die Forschung ist die botanische Einordnung nicht unerheblich: Friedrich selbst verglich das Immergrün der Tannen mit der immerwährenden Hoffnung der Gläubigen auf Christus – gemäß einer seiner seltenen Äußerungen über seine Kunst, zu der er sich im sogenannten Ramdohr-Streit um sein Gemälde Das Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar) veranlasst sah (Anm. 3). Eng verwandt in Friedrichs Œuvre ist Frühschnee mit Der Chasseur im Walde. Letzteres entstand um 1813; daher wird das Bild des im bedrohlich einsamen Winterwald verlorenen, womöglich französischen Soldaten gemeinhin als politischer Kommentar Friedrichs gedeutet. Kompositorisch unterscheiden sich die beiden Gemälde kaum voneinander, der entscheidende Unterschied liegt im Fehlen von Mensch und Rabe. Die patriotische Dimension tritt in Frühschnee zweifelsohne zurück, (Anm. 4) was vielleicht auch im kleineren Format zum Ausdruck kommt. Ohne eine Reflexionsfigur wird der Blick direkt in den Wald gesogen, wodurch dennoch ein gewisses Gefühl von Einsamkeit entsteht. Setzte Börsch-Supan die Fichten im Chasseur noch mit den geschlossen stehenden deutschen Freiheitskämpfern gleich, verkörperten sie ihm in Frühschnee die auf die Auferstehung hoffende Christenheit (Anm. 5). Interpretiert als Metapher auf den Erlösungswunsch, könnte Frühschnee als Pendant zu Ostermorgen oder auch zum Hamburger Tannenwald mit Wasserfall gelten.
Friedrich, der auf seinen Wanderungen häufig zeichnete und so Bildelemente für spätere Gemälde schuf, dürfte den Wald etwa in Sachsen durchaus als von menschlichem Eingriff bedroht erlebt haben. Bedingt durch die Industrialisierung war der Waldbestand auf dem bis heute niedrigsten Niveau in Deutschland. In Zeiten ohne elektrisches Licht galt der Wald als bedrohlicher Ort, der einsam Wandernden zum Verhängnis werden konnte. Mit der Erderwärmung im Anthropozän, in dem das menschliche Verhalten zum entscheidenden Faktor für die Natur wurde, ist die Fichte (anders als die Tanne) zunehmend gefährdet. Zwar kann sie mehrere hundert Jahre alt werden, durch Insektenbefall und sinkenden Grundwasserspiegel werden die für die deutsche Forstwirtschaft essenziellen Nadelbäume aber immer ohnmächtiger.
Clara Blomeyer
in: Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit, hrsg. von Markus Bertsch und Johannes Grave, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Berlin 2023, S. 180.
1 Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 412 – 414, Nr. 363.
2 Ebd., S. 112 u. 412.
3 Friedrich/Zschoche 2006, S. 53.
4 Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 413.
5 Vgl. ebd., S. 327 u. 413.