Dargestellt ist die bei Waldheim in Sachsen an der Zschopau gelegene Burg Kriebstein, wo sich Friedrich nachweislich am 25. Juni 1799 aufhielt. Dieses Datum trägt eine weitere Ansicht in Greifswald (Anm. 1), die die Burg von der anderen Seite zeigt. Die von Grummt vertretene Annahme, beide Ansichten in Greifswald und in Hamburg seien vom Boot aus aufgenommen, ist vor allem deshalb nicht zwingend, weil es sich bei dem Hamburger Blatt um keine Naturstudie handelt. Dies wird bereits daraus ersichtlich, dass Friedrich für die Darstellung der Wolkenformation rechts neben der Burg auf ein Blatt (Anm. 2) aus dem Berliner Skizzenbuch von 1799 und für die Tanne rechts auf eine wohl bereits in Dresden im September 1798 entstandene Baumstudie (Anm. 3) zurückgegriffen hat. Vielmehr handelt es sich um einen im Atelier entstandenen, durchkomponierten Entwurf, der heute aus zwei unterschiedlich großen Blättern zusammengesetzt wurde, von denen das rechte breiter ist. Beide Blätter waren ursprünglich größer, rechts und links sind jeweils Schnittkanten erkennbar. Die Ansicht ist heute so auf dem auf dem zusammengesetzten Blatt platziert, dass die Klebekante zur Symmetrieachse der Komposition wird. Friedrich selbst hat die Komposition mit einer Rahmung in Bleistift versehen, wobei das linke Blatt scharf an der linken Rahmung der Komposition, die noch teilweise erkennbar ist, beschnitten ist, während rechts ein breiterer Streifen nicht in die Komposition einbezogen wurde.
Auf dem rechten Streifen außerhalb der Rahmung befindet sich die Skizze einer Figurengruppe, bei der es sich – die Beobachtung geht auf Werner Sumowski zurück – um eine Vorstudie zu dem 1799 entstandenem Aquarell „Trauerszene am Strand“ in Mannheim handelt. (Anm. 4) Das Mannheimer Blatt entstand am 26. Mai 1799, was allein für die Hamburger Figurenstudie am rechten Rand eine Entstehung vor dem 26. Mai voraussetzt. Sie entspricht in ihrer skizzenhaften Anlage ebenso wie die hinter der Figurengruppe stehende Weide bereits dem ausgeführten Aquarell (Anm. 5); die unterhalb der Gruppe erkennbare Standlinie, die links in die Ansicht der Burg Kriebstein reicht, spricht für eine schon konkretere Vorstellung der Komposition, weshalb ihre Entstehung kurz vorher anzusetzen ist.
Dies gilt allerdings nicht – wie Christina Grummt suggeriert – für das gesamte Blatt, das offensichtlich erst später im Atelier entstanden ist. Darauf deutet nicht nur die Rahmung der Komposition, die damit bildhaften Anspruch erhebt, sondern auch die zeichnerische Durcharbeitung des Blattes. Grummt hat auf das Nebeneinander „von architektonischer Zeichnung und Freihandzeichnung“ hingewiesen, was konkret bedeutet, dass Friedrich die Konturen der Burg mit Hilfe einer Reißschiene bzw. eines Lineals gezeichnet hat – an der zudem noch Hilfslinien stehen geblieben sind -, während er die Felsformationen, die Wolken und Vegetation mit einem weicheren Bleistift frei Hand gezeichnet hat. Diese Differenzierung der zeichnerischen und konstruktiven Mittel belegt die Ateliersituation, in der das ehemals wohl auch größere Blatt entstand. Friedrich hielt sich der erwähnten Naturstudie in Greifswald zufolge am 25. Juni 1799 in Kriebstein auf; es ist deshalb wahrscheinlich, dass Friedrich anlässlich dieses Aufenthalts noch andere, heute verschollene bzw. nicht identifizierte Naturstudien machte, auf deren Grundlage danach das Hamburger Blatt entstand. Dies macht eine Entstehung des Blattes erst in der zweiten Jahreshälfte 1799 oder auch erst im Winter 1799/1800 wahrscheinlich, offensichtlich in Zweitverwendung, denn die frühere Entstehung der Figurengruppe rechts darf als gesichert gelten.
Das Blatt weist neben der geschwärzten Verso-Seite auch Durchgriffelungen im Bereich des Flussufers, in dem Nadelbaum rechts und in den Wolkenformationen auf, die eine geplante Übertragung in ein anderes Medium vermuten lassen. Sumowski hat deshalb angenommen, Friedrich habe das vorliegende Blatt für ein verschollenes Aquarell oder ein Sepiablatt verwendet (Anm. 6), doch konnte es bisher nicht nachgewiesen werden. Ob das Blatt zu diesem Zweck verwendet wurde, muss deshalb offen bleiben, doch weist es neben Ritzungen und der Schwärzung des Versos zusätzlich erhebliche Gebrauchsspuren auf, die eine solche oder ähnliche Verwendung im Atelier wahrscheinlich machen. Im Bereich des Burgfelsens unten links ist das Blatt rot eingefärbt mit einer prägnanten rechtwinkligen Aussparung unterhalb der Burg, die daher rührt, dass ein anderes Blatt darüber lag, als die Zeichnung – aus Versehen im Atelier oder später ? – rot eingefärbt wurde.
Peter Prange
1 Burg Kriebstein, Feder in Schwarz über Bleistift, 237 x 377 mm, Greifswald, Pommersches Landesmuseum, Inv. Nr. 22000618, vgl. Grummt 2011, S. 213-214, Nr. 212, Abb.
2 Wolkenstudie, Bleistift, 238 x 187 mm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. SZ 79, vgl. Grummt 2011, S. 161-162, Nr. 139, Abb.
3 Baumstudie, Bleistift, 269 x 211 mm, Zürich, Kunsthandel Arturo Cuéllar, vgl. Grummt 2011, S. 99, Nr. 59, Abb.
4 Trauerszene, 1799, Feder und Pinsel in Grau und Braun über Bleistift, 187 x 237 mm, Kunsthalle Mannheim, Inv. Nr. G 437, vgl. Grummt 2011, S. 135-137, Nr. 112, Abb.
5 Unklar bleibt die Annahme, Friedrich habe für die Weide auf eine Studie zu einem knorrigen kahlen Baum zurückgegriffen, die sich ehemals in der Sammlung Prinz Johann Georgs von Sachsen befand und 1941 zur Versteigerung vorgesehen war, im zugehörigen Auktionskatalog allerdings nicht abgebildet wurde, vgl. Grummt 2011, S. 78, Nr. 32, und S. 136.
6 Sumowski 1970, S. 182, Nr. 4.