Gemälde von Caspar David Friedrich mit dem Titel: »Kreidefelsen auf Rügen«, geschaffen 1818

Ölfarben auf Leinwand

70 x 90 cm


Kunst Museum Winterthur, Stiftung Oskar Reinhart

Kreidefelsen auf Rügen, 1818
Caspar David Friedrich

Friedrichs Darstellung der Kreidefelsen auf Rügen, fraglos eines seiner Hauptwerke, ist so bekannt, dass rasch übersehen wird, wie wenige verlässliche Informationen über dieses Bild vorliegen (Anm. 1). Nicht einmal das Entstehungsjahr ist gesichert, wenngleich oft vermutet wird, dass Friedrich das Gemälde um 1818, kurz nach seiner Hochzeit mit Caroline Bommer, schuf. Eine am 6. August 1818 in Stralsund entstandene Zeichnung dürfte die Vorlage für das entferntere Segelschiff geboten haben (Anm. 2), sodass das Bild kaum vor 1818 entstanden sein kann. Eine etwas spätere Datierung lässt sich aber ebenfalls nicht ausschließen. So könnte es sich bei dem Gemälde in Winterthur um ein Bild handeln, das Carl von Voß am 6. Juli 1822 in Friedrichs Atelier sah: eine »Landschaft von der Insel Rügen: der Vordergrund eine auseinandergerissene Kluft, dahinter blendend weiße Kreidefelsen mit wunderbaren Zacken, darüber hängt wie in der Luft schwebend die unendliche Ferne der Ostsee; eine wunderbare Ansicht, die dieser Küste eigen ist« (Anm. 3).
Damit wäre das Bild in Winterthur knapp, aber zutreffend beschrieben, denn es vereinigt dramatische Elemente, wie die Kluft und die Felszacken, mit einer faszinierenden Aussicht auf die Weite des Meeres. Um zu dieser Komposition zu gelangen, kombinierte Friedrich zwei in der Wirklichkeit getrennte Ansichten der sogenannten Kleinen und Großen Stubbenkammer auf Rügen. Für die linke Felswand und die markante Zacke im Zentrum rechts haben sich Studienzeichnungen der Kleinen Stubbenkammer erhalten, die der Künstler am 11. August 1815 vor Ort hatte anfertigen können (Anm. 4). Die in den Zeichnungen festgehaltenen Dimensionen hat Friedrich im Gemälde gesteigert, sodass der von Carl von Voß angesprochene Effekt deutlicher hervortritt.
Die Friedrich-Forschung hat in verschiedenen Varianten mögliche Identifizierungen der dargestellten Figuren diskutiert (etwa als Caroline und Caspar David Friedrich sowie dessen Bruder Christian) und die These erwogen, dass sich das Gemälde auf die Hochzeitsreise beziehen könnte, die den Maler und seine Frau im Sommer 1818 nach Vorpommern und Rügen führte. All diese Deutungsvorschläge finden jedoch ihre Grenze darin, dass die Figuren nur als Rückenansichten oder allenfalls, wie die Frau, im verlorenen Profil gezeigt werden. Zudem legt deren im Bild geschildertes Verhalten nicht gerade die Vermutung nahe, dass hier ein Hochzeitspaar dargestellt werden soll. Überhaupt werden weniger Gemeinsamkeiten zwischen den Figuren herausgearbeitet als Unterschiede, die vor allem am jeweiligen Zugang zur Natur hervortreten. Während die Frau und der ungelenk kniende Mann nur Augen für den Abgrund oder allenfalls für das unmittelbar vor ihnen wachsende Gras haben, richtet der rechts stehende Mann seinen Blick gelassen auf das Meer. Diese beiden sehr unterschiedlichen Wahrnehmungsoptionen bieten sich ebenfalls den Betrachterinnen und Betrachtern vor dem Bild dar: Auch sie haben die Wahl zwischen Tiefensog und Weitblick. An den Figuren im Bild können wir mithin eine Frage reflektieren, vor die wir selbst gestellt sind.
Indem Friedrich stark voneinander abweichende Wahrnehmungen der Kreidefelsen vor Augen führt, könnte er sich kritisch auf zeitgenössische Rügen-Bilder beziehen, wie sie in den Dichtungen und Schriften von Ludwig Gotthard Kosegarten oder in frühen Reiseführern popularisiert wurden. Während dort schauerlich-erhabene Naturschauspiele beschworen werden, überwiegt in Friedrichs Bild letztlich eine heitere Stimmung, die ihr eigentliches Zentrum in dem nuancenreichen Farbenspiel des Meeres findet. Sowohl die Bildkomposition als auch die Charakterisierung der rechten Figur durch die altdeutsche Tracht, eine politisch konnotierte Kleidung, lassen darauf schließen, dass Friedrich mit der Haltung des stehenden Mannes sympathisierte.

Johannes Grave
in: Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit, hrsg. von Markus Bertsch und Johannes Grave, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Berlin 2023, S. 204.

1 Zum Gemälde vgl. Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 353f., Nr. 257; Vignau-Wilberg 1980; Jensen 1995, S. 182–189; Zschoche 1998, S. 110–117; Grave 2000; Busch 2003, S. 110–116; Märker 2007, S. 124–128; Börsch-Supan 2008, S. 113–142; Virmond 2015; Amstutz 2020, S. 62–68 u. 152; Busch 2021, S. 110f.; Grave 2022a, S. 217–222.

2 Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 353; Grummt 2011, Bd. 2, S. 748, Nr. 818.

3 Voß/Voß 1986, S. 145.

4 Zschoche 1998, S. 80–88 u. 110–117; Busch 2003, S. 110f.; Grummt 2011, Bd. 2, S. 682–684, Nr. 733–735.

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Bildnachweis
SIK-ISEA, Zürich (Philipp Hitz)