Dresden erlebte 1820/21 einen ausnehmend strengen Winter. So kam es, dass die Elbe zeitweilig komplett zufror. Das nur selten zu beobachtende Naturereignis faszinierte auch Friedrich nachhaltig. Begab er sich üblicherweise mit Bleistift und Skizzenbuch in die freie Natur, um erst im Atelier – und damit fern vom Gesehenen – Farbe in seine Kompositionen zu bringen, führte er diesmal die nötigen Malmaterialien mit sich, als er das Elbufer aufsuchte. Drei unregelmäßig beschnittene Ölskizzen haben sich erhalten, die Friedrich aller Wahrscheinlichkeit nach an Ort und Stelle festhielt (Hamburger Kunsthalle). (1) In Nahsicht zeigen sie verschiedene Eisschollen, bei deren Wiedergabe der Künstler neben den kantigen Formen insbesondere die unterschiedlichen Farbwerte des gefrorenen Wassers im Blick hatte.
Auf Grundlage der Studien schuf Friedrich wenige Jahre später mit Das Eismeer ein Gemälde, das zu den ambitioniertesten und modernsten Kompositionen seines Œuvres zahlt. (2) Wenngleich sich auf motivischer Ebene verschiedene Bezüge zwischen den Ölskizzen und dem fertigen Bild herstellen lassen, steigerte Friedrich bei Letzterem die Größenverhältnisse ins Monumentale. Vor dem Gemälde sehen wir uns dem ewigen Eis einer grenzenlosen Polarlandschaft gegenüber, in deren Zentrum ein sich aus mächtigen Platten auftürmender Eisberg ein Segelschiff unter sich begräbt.
Derartige Themen lagen in der Luft. In jenen Jahren starteten verschiedene Expeditionen, von denen viele im Packeis endeten. Es hat jedoch den Anschein, als habe sich Friedrich mit seiner Komposition auf keine bestimmte dieser Unternehmungen beziehen wollen. (3) Seine so fantastisch wie verstörend anmutende Komposition lässt sich vielmehr als grundsätzlicher Kommentar zum Subjekt-Natur-Verhältnis verstehen. Den Versuch, eine Nordwestpassage zu erschließen und auf einer nördlicheren – und damit kürzeren – Route den Atlantik zu überqueren, entlarvte Friedrich mit seinem Katastrophenbild als Ausdruck menschlicher Hybris. Der gewaltigen Natur gegenüber schutzlos ausgeliefert, muss der Mensch sich letztlich deren Macht beugen. Der Drang, in lebensfeindliche Regionen vorzustoßen, ist zum Scheitern verurteilt.
Seitens der Forschung wurde Friedrichs Gemälde immer wieder mit der damals besonders rege geführten Debatte um die Ästhetik des Erhabenen verbunden. (4) Um einer erhabenen Erfahrung teilhaftig zu werden, ist allerdings ein sicherer Standpunkt erforderlich. Wenngleich die stufenartig geschichteten Eisschollen im Vordergrund zunächst dazu einladen, sich auf den Bildraum einzulassen und ihn sogar imaginär zu betreten, merken wir schon bald, wie schwierig es ist, unseren Standort gegenüber dem Gemälde zu definieren. Anstelle der erhofften erhabenen Empfindungen stellt sich eher ein Gefühl von Verunsicherung ein. (5)
Offen bleibt die Frage, ob Friedrich sein Werk eventuell als Beitrag zu dieser Diskussion verstand. Es ist durchaus denkbar, dass er mit seiner ungewöhnlichen Komposition die Erwartungen des Publikums auf die Probe stellen wollte. Jedenfalls deckt sich dies mit seinen grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber einer Kunst, die es sich zur Aufgabe macht, den Betrachtenden die Illusion eines Naturerlebnisses zu suggerieren. Stattdessen beharrte Friedrich auf einer deutlichen Grenzziehung zwischen den Bereichen von Natur und Kunst.
Markus Bertsch
(1) Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 386; Rautmann 1991, S. 14–17.
(2) Zu diesem Bild vgl. u. a. Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 386 f., Nr. 311; Rautmann 1991; Grave 2001; Busch 2003, S. 116–118; Grave 2018; Grave 2022a, S. 198 f.
(3) Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 386 f.; Rautmann 1991, S. 17–20; Busch 2003, S. 116 f. Womöglich hat sich Friedrich auch von Panoramagemälden inspirieren lassen, die damals, unter anderem auch in Dresden, ausgestellt waren und sich üblicherweise auf konkrete Expeditionen bezogen. Vgl. Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 387.
(4) Vgl. hierzu u. a. Rautmann 1991, S. 20–25. Kritisch zur Frage einer möglichen Kompatibilität des Eismeers mit der Ästhetik des Erhabenen: Grave 2001; Busch 2003, S. 116 f.
(5) Grave 2001, S. 145–149; Busch 2003, S. 117 f.; Grave 2022a, S. 198 f.