Figurenstudien wie auf dem vorliegenden Blatt, das auf der linken Seite eine einfach gekleidete Frau als Rückenfigur mit einem Kind auf dem Arm, während rechts neben ihr ein kleiner Junge kniet, finden sich vor allem unter Friedrichs Zeichnungen der Frühzeit. Die Hamburger Zeichnung wirkt in ihrer Beschränkung auf den Kontur einfach und gleichförmig, doch in der zeichnerischen Ausführung sicher. Der braune, dabei leicht glänzende Farbton des Papiers rührt daher, dass es durch das Auftragen von Firnis transparent gemacht wurde. Friedrich hat dieses Verfahren zur Herstellung von Pausen wiederholt angewendet.(Anm. 1)
Das Hamburger Blatt zählt zu einer ganzen Reihe von Figurenstudien, die auf dieser Art hergestelltem Transparentpapier entstanden und im Werk Friedrichs eine eigene Gruppe bilden. Willi Geismeier hat darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Zeichnungen nicht um eigene Studien handelt, sondern um Durchzeichnungen nach zumeist eigenen Gemälden. Geismeier schließt aus dem Umstand, dass keine Studien zu diesen Staffagefiguren bekannt sind, „Linienzug und Schraffierung der Pause [aber] genau mit der entsprechenden Gemäldestaffage übereinstimmen“, dass es sich um Durchzeichnungen nach eigenen Gemälden handelt.(Anm. 2) Neuere restauratorische Untersuchungen am Beispiel eines Blattes in Berlin mit der Darstellung eines sitzenden Mannes in Berlin (Anm. 3), bei dem es sich um eine Pause nach dem sitzenden Mann auf dem Gemälde „Mondaufgang am Meer“ (Anm. 4) handelt, haben Geismeiers Ergebnisse bestätigt (Anm. 5), doch konnte für das Hamburger Blatt bisher keine entsprechende Figurengruppe auf einem Gemälde nachgewiesen werden. Dies muss allerdings nicht bedeuten, dass die Gruppe nicht von einem Gemälde Friedrichs stammt, es könnte sich auch um die Durchzeichnung von verworfenen bzw. übermalten Figuren handeln. Allerdings spricht gegen eine solche Vermutung, dass die von Geismeier genannten Durchzeichnungen großfigurig sind, d. h. das Format der Blätter ist größer und die Figuren füllen die Blätter meist nahezu vollständig aus. Sie entsprechen den Figuren auf den Gemälden im Verhältnis 1:1. Auf dem kleinformatigen Hamburger Blatt füllt die Figurengruppe dagegen nur den linken, oberen Teil aus – in der Literatur ist das Blatt bisher nur als Ausschnitt abgebildet worden -, weshalb die Figurengruppe im Vergleich zu den anderen Durchzeichnungen ungewöhnlich klein ausfällt – die Frau misst in der Höhe nur 36 mm, der Junge 11 mm. Ähnlich kleinformatige Figurendarstellungen gibt es im Berliner Skizzenbuchs II von 1799/1800, in dem Friedrich einzelne Blätter mit verschiedenen Figurenstudien gefüllt hat, die teilweise nach holländischen Gemälden in der Dresdner Galerie entstanden.(Anm. 6) Auf einem dieser Blätter findet sich auch – darauf hat erstmals Sumowski hingewiesen – die kniende Kinderfigur (Anm. 7), auf die die Hamburger Kinderfigur sicher zurückgeht. Ob es sich allerdings um eine direkte Kopie nach dieser Figur handelt, oder um die Kopie nach einem bisher nicht erkannten holländischen Vorbild, muss offenbleiben, denn auf dem Hamburger Blatt ist die Figur des Jungen vereinfacht wiedergegeben.
Sumowski (Anm. 8) und zuletzt Grummt haben aufgrund der motivischen Nähe zum Skizzenbuchblatt in Berlin für das Hamburger Blatt ebenfalls eine Datierung um 1799/1800 vorgeschlagen, doch bleibt sie fraglich, da der zeichnerische Duktus zwischen beiden Blättern sehr unterschiedlich ist. Während das Berliner Skizzenbuchblatt noch von der kantigen Zeichenweise mit der feinen Feder der Frühzeit geprägt ist, ist der Duktus auf dem Hamburger Blatt flüssiger und durch die Verwendung zweier verschiedenfarbiger Tinten differenzierter, was möglicherweise ein Indiz für eine spätere Datierung – Sigrid Hinz datiert das Blatt um 1825 allerdings zu spät (Anm. 9) – sein könnte.
Peter Prange
1 Vgl. etwa Grummt 2011, S. 852-858, Nr. 940-945, Abb.
2 Geismeier 1965, S. 55. Das genaue Verfahren zur Herstellung von diesen Durchzeichnungen ist noch nicht geklärt, doch hat Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, S. 52, darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Figurendarstellungen Friedrichs mit den „seltsam tot und gänzlich gleichförmigen“ Linien um „Durchzeichnungen von der Glasplatte der Camera obscura oder eher noch Nachzeichnungen des Blicks durch das Prisma der Camera lucida auf das Papier“ handeln könnte.
3 Sitzender Mann, Pinsel in Schwarz auf Transparentpapier, 99 x 60 mm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. SZ 13, vgl. Grummt 2011, S. 767-768, Nr. 839, Abb.
4 Mondaufgang am Meer, Öl/Lw, 55 x 71 cm, Berlin, Staatliche Museen, Nationalgalerie, Inv. Nr. Wagenersche Sammlung 53, vgl. Börsch-Supan 1973, S. 379, Nr. 299, Abb.
5 Ingo Timm: Zur Maltechnik Caspar David Friedrichs, in: Caspar David Friedrich. Der Watzmann, hrsg. von Birgit Verwiebe, Ausst.-Kat. Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Köln 2004, S. 108.
6 Sumowski 1970, S. 59.
7 Figurenstudien, Bleistift, Feder in Schwarzgrau, 486 x 191 mm (zwei verso mit einem Klebestreifen zusammengeklebte Seiten), Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. SZ 106, vgl. Grummt 2011, S. 202, Nr. 191, Abb.
8 Sumowski 1970, S. 182, Nr. 7.
9 Hinz 1966, S. 125, Nr. 776.