Um 1818 malte Friedrich zwei Bilder, die eine Frau am Meeresstrand zeigen. Eines der beiden Gemälde ist nur noch aus Fotografien bekannt; es befand sich ehemals in Gotha und wurde 1931 beim Brand des Münchner Glaspalastes zerstört. (Anm. 1) Es wartete mit einem für Friedrich ungewöhnlich anekdotischen Motiv auf, zeigte es doch eine auf einem Felsen sitzende Frau, die weithin sichtbar einem Schiff mit einem Taschentuch nachwinkt. Das zweite, formatgleiche Gemälde wirkt unkonventioneller. (Anm. 2) Denn hier erscheint eine weibliche Rückenfigur in fast liegender Haltung, sodass sie deutlich ruhiger und entspannter wirkt, während gleich fünf Boote in regelmäßiger Reihe an ihr vorbeigleiten. So ungezwungen die Lage der Frau anmutet, so kalkuliert ist die Komposition des Bildes gefügt: Auf die Horizontale der über dem Wasser ausgebreiteten Fischernetze antwortet der waagerechte Riegel der Kreidefelsen von Arkona; und die Bootskörper bilden eine Diagonale aus, mit der die Uferlinie wiederholt wird. Ihr komplementäres Gegenstück finden diese Diagonalen in einer von links nach rechts aufsteigenden Linie, die durch die Mastspitzen markiert wird. Die aufgestützt liegende Haltung der Frau in der Natur bleibt ungewöhnlich. Sie kann entfernt an das von Joseph Wright of Derby gemalte Porträt des Sir Brooke Boothby (1781) oder an Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Goethe in der Campagna (1787) erinnern, wobei es höchst unwahrscheinlich ist, dass Friedrich eines dieser Bilder kannte. Immerhin durch einen Reproduktionsstich von Benoît Louis Henriquez verbreitet war ein Bildnis der Duchesse de Chartres, Louise Marie Adélaïde de Bourbon, das der französische Maler Joseph Siffred Duplessis 1779 im Pariser Salon präsentiert hatte. Es zeigt die Herzogin von Chartres ebenfalls in weitgehend liegender Pose an einem Ufer, hier allerdings vom abfahrenden Schiff ab- und der Betrachterin oder dem Betrachter zugewandt. Im Vergleich mit dem französischen Porträt tritt noch stärker hervor, wie sehr uns die Frau in Friedrichs Bild entzogen ist. Nicht nur muss ihre Identität ungeklärt bleiben, sondern auch das Ziel ihres Blicks ist ungewiss. Denn die bildparallele Ausrichtung ihres Kopfes lässt vermuten, dass ihre Aufmerksamkeit nicht den Booten gilt, auf die unser Blick gezogen wird.
Johannes Grave
in: Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit, hrsg. von Markus Bertsch und Johannes Grave, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Berlin 2023, S. 206.
1 Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 346f., Nr. 244.
2 Zu diesem Bild vgl. Börsch[1]Supan/Jähnig 1973, S. 347, Nr. 245; Slg.-Kat. Winterthur 1993, S. 75f., Nr. 29; Busch 2003, S. 126; Börsch-Supan 2008, S. 139f.; Ausst.-Kat. Oslo/Dresden 2014, S. 167, Nr. 58; Busch 2021, S. 71f.